ABC-Etüden 36.37.19 – Der LKW war stärker


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Der LKW war stärker

Er steht mitten auf der Straße. Seinen geblümten Zuckertopf  hält er in der linken Hand. Er hat ihn vor sechzehn Jahren von seiner verstorbenen Tante aus Dresden geerbt.  Die Sonne scheint grell von rechts oben. Er muss die freie rechte Hand hochnehmen, um das helle Licht abzuschirmen. Helligkeit bereitet ihm Schmerzen im Kopf. Er hasst es, weil er sich dann nicht seinen Gedanken hingeben kann.

Er hat ein ziemlich ambivalentes Verhältnis zu seiner Familie. Den Bruder mag er. Der ist still und in sich gekehrt. Wie er. Für ihn würde er alles tun. Die ältere Schwester ist nur in sich selbst verliebt. Er mag es nicht, wie sie sich immer wieder allen möglichen Typen anbiedert. Keinen Finger würde er für sie krümmen. Die Mutter ist bei einem Unfall bei einer Kreuzfahrt ums Leben gekommen. Und der Vater, bei dem Versuch, die Mutter zu retten.

So ist er immer schon auf sich selbst gestellt. Solange er denken kann. Und immer, wenn er traurig ist, muss er ein Stück Würfelzucker lutschen. Das hilft ihm, über düstere Gedanken hinweg zu kommen. Aber jetzt ist Sonntag und gleichzeitig Feiertag. Und der Zuckertopf ist komplett leer! Und seine Gedanken trüb wie selten. Und kein Zucker! Er zittert bereits am ganzen Leib. Trotz der Sommertemperatur von 32 Grad. „Alle Geschäfte geschlossen!“, hämmert es in seinem Hirn. „Was tun!!??“ Die Verzweiflung in ihm wächst. Schaum steht ihm schon in kleinen Blasen vor dem Mund. „Was tun!!??“

Er  dreht sich um. Plötzlich hinter ihm das Café im Blickfeld. „Kaffee! Zucker!“, zuckt es durch seinen Kopf. Er rennt über die Straße, reißt zwei oder drei Zuckerstreuer in einer Verzweiflungstat von den draußen aufgestellten Tischen. Rennt voller Vorfreude zurück. Schaut nicht. Spürt nur kurz den Aufprall.

(286 Worte)

Bilder: lizenzfrei von www.pixabay.de

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14 Comments

  1. Oh, lieber Himmel, das ist auch keine Geschichte, über die man so leicht hinwegliest.
    Ich grübele gerade zur Ablenkung über die Symptome nach. Du beschreibst eine schwere Unterzuckerung, und deinem Protagonisten ist nicht mal klar, dass er vermutlich Diabetiker ist? Na, Glückwunsch.
    Was für ein tolles Leben.
    Großartige Etüde, lieber Werner.
    Liebe Grüße
    Christiane 😀🌧️😺👍

        1. Das würde ich so verallgemeinernd nicht sagen. Es reicht, introvertiert zu sein, um Einzelgänger zu sein. Das bedeutet nicht automatisch, dass dieser Introvertiertheit eine Depression oder gar ein Trauma zugrunde liegen muss!

          1. Das dachte ich mir. Ich störte mich daher im Wesentlichen an dem Nachsatz „Wie viele Einzelgänger“, weil sich der eben nicht nur auf den Protagonisten bezieht und eine Allgemeingültigkeit hat, die ich so eben nicht sehe.

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