Verschiebung
Sein ganzes Leben lang hatte er es sich anhören müssen: „Du schlägst vollkommen aus der Art!“ „So kann ja nichts aus dir werden!“ „Kapiere doch endlich, das Leben ist kein Kinderspiel“ „Tu doch endlich mal was!“ Die vielen Sprüche, die vielen „guten“ Ratschläge. Oh, wie er all das gehasst hatte. Aber er hatte alles in sich hineingefressen, keine Regungen oder Reaktionen nach außen gezeigt. Aber im Inneren hatte er schon immer gewusst: du schaffst es, lass sie doch reden, ich mach mein Ding!
Er hatte ihnen verschwiegen, dass er schon lange nicht mehr der „stupide Buchhalter“ in einem angeblich drittklassigen Konzern war. Nein, Schritt für Schritt war er in der Gunst seines Chefs nach oben geklettert. Er hatte da einige Gesetzeslücken entdeckt, wodurch die Firma und der alleroberste Boss beliebig mit den Firmengeldern jonglieren konnten, ohne auch nur einen Cent Steuern zu zahlen. All das hatte er für sich behalten, die Familie wusste nichts davon. Und auch sein Chef wusste nichts davon, dass er über Jahre hin auch für sich selbst Einiges abgezweigt hatte. Sicher auf Auslandskonten angelegt.
Ende des Monats war er im Einvernehmen mit dem Chef aus der Firma ausgeschieden. Heute feierte er still seinen 55sten Geburtstag. Behäbig räkelte er sich in seinem Vitra Armsessel von Charles & Ray, der einzige Luxus, den er sich über die Jahre gegönnt hatte. Morgen würde er zu den Cayman Islands fliegen. Und dann hätte er die ganze Zeit und Freiheit, dem lange entsagten Luxus zu frönen und einen kleinen Batzen seines Vermögens zu verprassen.
Er schaute auf, als er nach der Weinflasche griff. Dann hörte er den gedämpften Knall. Als er langsam nach vorne kippte, sah er wie in Zeitlupe wie sein Zwillingsbruder sich alle für die Reise zusammen gestellten Dokumente schnappte und verschwand. „So ein Hund!“ dachte er noch.
(299 Worte)

Und die Moral von der Geschicht? Es ist immer unklug anzunehmen, dass man allein die Cleverness mit Löffeln gefressen hat. So ein Hund, der Bruder!
Wobei ich mich frage, ob es so klug ist, den Bruder so auffällig zu erledigen … 🤔🤠
Danke dir, Werner, was für eine Geschichte! 👍
Nachmittagskaffeegrüße 🌦️🌻🍃☕🍪👍
Na ja, der nun tote Bruder hat mit Sicherheit alles getan, um auch seine Spuren zu verwischen und seine Reiseroute so geplant haben, dass ihm keiner auf die Schliche kommen könnte.
Freut mich, dass Dir mein erster Krimi gefallen hat!
Ah, du hast Familie erwähnt, also dachte ich, er hätte eigene 🤔
Ja, hat er, sehr sogar.
So ein gemeiner Bruder, da sieht man mal wieder…wie meine Oma schon immer sage: „Familie kann man sich nicht aussuchen, nur Freunde“.
So isses!
Überraschende Wendung. Hoffen wir, dass Karma auch den 2ten Bruder einholt. 😅
Ich lasse ihn erstmal eine Zeitlang schwitzen.
Auch so ein Nutzniesser. Aber ich denke, der Zwilling kann das Inselleben von Natur aus besser als sein Bruder geniessen, der hätte das ja erst üben müssen!
Na ja, mit genug Geld auf der Kante kann man schon eine zeitlang üben!
Der hätte es nicht kapiert. der wäre nach 6 Monaten zurück, um mehr Geld zu scheffeln.
Danke dir, Werner.
Offensichtlich sind nicht nur stille Wasser tief…
Kommen jetzt mehr Krimis von dir?
Liebe Grüße
Judith
Weiss noch nicht, das war mein erster Versuch, inspiriert durch die (vergessenen) eigenen Worte.
Freut mich jedenfalls, dass die Version Anklang bei Dir gefunden hat.