ABC-Etüden 02.03.19 – Müll


2019 02+03 | 365tageasatzaday

 

https://365tageasatzaday.wordpress.com/2019/01/06/schreibeinladung-fuer-die-textwochen-02-03-19-wortspende-von-ludwig-zeidler/

 

müll

 

Er war so unschuldig, wie ein Kind mit zehn Jahren nur sein konnte. Seine Eltern hatten ihn auf dieser Halde abgesetzt, nachdem sie ausreichend Schutzgeld bezahlt hatten. Sie würden ihn vor der Dämmerung wieder abholen. So sollte es in Zukunft an jedem Tag gehandhabt werden. Sein Essen sollte er selbst zusammen kratzen, ebenso wie die versteckten Wertstoffe, die hier noch zu holen waren aus dem Müll der reichen Städter. Jeden Tag karrten die orangenen Fahrzeuge tonnenweise Weggeschmissenes an. Die Fahrer waren mussten die Ladung nach einem bestimmten Raster abkippen, so wie ihnen die Kapos das vorgaben. Die Kapos überwachten auch die Sammler und Scharrer und registrierten jeweils die Menge an Stoffen, die noch verwertbar schienen. Das war nötig für den 25%-igen Anteil, den der  Große Boss erhielt, den noch keiner jemals gesehen hatte.

Die Sonne stand den ganzen Tag über am Himmel und brannte auf ihn nieder. Er hatte Durst. Da, beim Scharren entdeckte er eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche mit Orangensaft. Was stand da drauf? Etwas Lesen und Schreiben hatte er ja in der Dorfschule schon gelernt. V-e-r-f-a-l-l-s-d-a-t-u-m buchstabierte er, 30-05-2017. Er konnte dieses Wort  und diese Zahl nichts ihm Bekanntes zuordnen. Er öffnete die Flasche, roch kurz daran und kippte dann alles mit einem raschen Schluck in seine Kehle. Er schüttelte sich kurz. Jetzt konnte er weiter suchen. Abfallglück sagte sein Vater immer, wenn er etwas Essbares oder Trinkbares von der Halde mit nach Hause geschmuggelt hatten. Er lobte ihn dann. Ja, das Leben meinte es gut mit ihm.

 

(251 Worte)

 

müllkind