Kulissenschieber


Erinnerungen

an

einen

Kulissenschieber

Werner Kastens

Schauspiel

in einem gnadenlosen

Akt

Für meine Kinder

Entlarvung

Kommt,

all’ die abgeworfenen Masken

wollen wir aufsammeln

und in ein Museum stellen.

Es wird bald riesengroß sein,

und wir müssen uns noch

Platz für die Zukunft lassen.

Nehmt sie auch den Toten ab,

und den Lebendigen.

1. Szene

Ein Gebäude.

Ein Zimmer mit einer verschließbaren Tür.

Zwei Menschen.

Erster:

Sag’ mal. Warum bist du denn eigentlich hier? Du bist doch so einer gar nicht.

Zweiter:

Sie haben mich hierher gebracht, weil ich schon uralt bin.

Erster:

Du scheinst ‘n Witzbold zu sein. Ich schätze dich man gerade so auf Mitte/Ende Dreißig.

Zweiter:

Sie glauben mir nicht? Doch, doch, ich bin uralt. Ich will es Ihnen erklären.

Ich hatte eigentlich einen ganz guten Posten. Es ging mir gut. Nicht so gut wie Ihnen

vielleicht, der Stoff Ihrer Hose ist viel besser. Aber ich stelle auch nicht so große Ansprüche.

Erster:

Was war ‘n das für ‘ne Firma, wo du geschafft hast?

Zweiter:

Uralte Sache. Wir hatten letztes Jahr Jubiläum. Ein paar hundert Jahre, ich weiß nicht

mehr so genau. Aber immer was los, da kam man nie zur Ruhe. Von meinem Vater

hatte ich den Job, und bei dem war es auch schon so. Mein Großvater musste damals

auch schön ran, 6 Tage die Woche, Sie wissen, wie das früher war.

Also, es war immer ein Kommen und Gehen, viel Publikumsverkehr. Die meisten mit

schwarzem Frack. Wie Totengräber sahen die meistens aus.

Schlürft seinen Kaffee.

Oh, verdammt, fast hätte ich mir die Zunge verbrannt.

Nach einer kleinen Pause:

Am schwarzen Brett hatten sie angeschlagen, dass wir als quasi Geheimnisträger

nicht so direkten Kontakt mit dem Publikum pflegen möchten. Aber das ist ja alles

kalter Kaffee.

Erster:

Was haste da denn gemacht?

Zweiter:

Schlürft weiter, wickelt eine Stulle aus Stanniolpapier, dreht sie prüfend in der Hand,

beißt rein.

Immer der gleiche Käse.

Erster:

Was haste gesagt?

Zweiter:

Ach entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gemeint, dies hier. Deutet auf seine Stulle.

Hat mir meine Frau noch mitgegeben. Die gute Seele. Lächelt.

Erster:

langsam ungeduldig auf und ab gehend, die Daumen hinter den Gürtel geklemmt.

Also los, erzähl’ schon weiter, was war denn das für ‘n Laden?

Zweiter:

nimmt noch einen Schluck Kaffee aus dem Becher.

Ach so, ja, das war am Theater.

Erster:

‘N Schauspieler biste. Hätt’ ich mir ja gleich denken können.

Zweiter:

abwinkend: Nein, nein, da liegen Sie falsch. Lacht. Nein, Kulissenschieber war ich.

Erster:

Enttäuscht: Kulissenschieber. Mehr wie zu sich selbst: Ich hatte gehofft, du wärst

was Großes.

Zweiter:

Tut mir leid, wenn ich Ihre Erwartungen nicht erfüllen kann.

Erster:

Schon gut. Zu sich selbst: Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen.

Wendet sich dem zweiten zu.

Aber warum biste denn hier?

Zweiter:

Wissen Sie, ich war denen zu schlecht.

Erster:

Wie, das verstehe ich nicht. Ich denke du warst kein Interpret.

Zweiter:

Dann muss ich dazu weiter ausholen, wenn Sie gestatten.

Erster:

Nickt.

Zweiter:

Das war so. Heute hätte es wieder unser Klamaukstück gegeben: Gut und Böse.

Wenn Sie mich fragen, so ist das was Ähnliches wie Dallas, wenigstens zurzeit. Es

kommen auch immer weniger Leute. Und oft haben sie schon randaliert und, mit

Verlaub, in den Saal gep…., äh, uriniert sag’ ich doch wohl besser.

Erster:

Unterbricht ihn, lacht.

Du brauchst mir gar nichts weiter zu erzählen. Weiß schon Bescheid. ‘N alter Spanner

bist du. Die kenn’ ich. Hör’ bloß auf.

Holt eine Schlüsselkette aus der Tasche, wie sie auch in Nervenheilanstalten üblich

ist, schließt die Tür von innen auf, geht hinaus. Man hört wie die Tür zweimal abgeschlossen

wird, sich das Schiebefenster öffnet. Der Erste schaut durch das Gitter in

das Zimmer.

Höhnisch: Da biste auf dem falschen Dampfer hier!

Zweiter:

Springt von seinem Schemel in der Ecke des kahlen Zimmers auf.

Hören Sie mich an, ich bin doch noch gar nicht fertig!

Das Fenster knallt zu, man hört schwere Schritte aus dem Flur hallen. Langsam verebben

sie. Der Kulissenschieber sinkt auf seine Pritsche, fasst sich mit beiden Händen

an den Kopf, ein lautloses Schluchzen geht durch seinen Körper.

2. Szene

Gleicher Raum wie vorher, aber dunkel. Eine Glocke ertönt, man hört schlurfende

Schritte näherkommen. Das Licht im Zimmer geht an. Kurz darauf wird die Klappe

zur Seite geschoben und eine Tasse und ein Teller mit Brot werden hineingeschoben.

W.:

Hier, dein Frühstück. Ein Ei bekommen allerdings nur die Leichten. Deine Kategorie

muss hungern.

Lacht.

Und sei nicht verschnupft wegen gestern. Wir sind hier nun mal ‘ne kleine Familie.

Da musste nicht alles auf die Goldwaage legen.

Lacht.

K.: steht von der Pritsche auf, reckt sich, nimmt das Essen, ohne etwas zu sagen.

W.: zuckt mit der Schulter.

Ich lass’ das Türchen offen, damit du etwas frische Luft genießen kannst.

Lacht. Entfernt sich. Diesmal hallen die Schritte lauter.

K. isst ohne Appetit. Dann hockt er sich auf die Pritsche, den Kopf in beide Hände gestützt und stiert vor sich

hin. Nach ca. 3-4 Minuten kommt W. wieder. K. steht auf, packt sein Essgeschirr zusammen

und geht zur Tür. Schweigend reicht er W. alles. Kurz bevor dieser gerade kopfschüttelnd abgehen will:

K.:

Du könntest mir eigentlich einen Gefallen tun.

W. erst etwas verdutzt über das DU, bleibt stehen und schaut ihn durch das Gitter an.

W.:

Du lernst schnell, Bürschchen. Höhnisch dann: Womit kann ich dem Herren dienen?

K.:

Ungerührt: Du könntest mir ein paar Stückchen Kreide besorgen, weiß du, so normale,

weiße Kreide.

Nachdem ihn W. etwas entgeistert anschaut:

Kreide, wie in der Schule.

W.: Immer noch verblüfft, geht ab, ohne etwas zu sagen. Währenddessen beginnt K. in

seiner Zelle auf und ab zu gehen. Nach einiger Zeit hört man sich wieder Schritte

nähern. Schweigend legt W. zwei Stück weiße und 1 Stück rote Kreide auf das Brettchen

in die Klappe. Er schaut K. eine Weile an, dann sagt er:

Willst du deine Stimme erhöhen?

K. schaut ihn an und lacht, immer mehr, wie irre. Dann holt er prustend Luft und

lacht weiter. W. wendet sich kopfschüttelnd ab und schlurft wie in Gedanken verloren

davon.

3. Szene

K., jetzt in Ringelkleidung, sitzt an seinem Tisch, schreibt sich etwas auf. W. kommt

herein, ohne dass K. bis jetzt aufgeblickt hätte.

W.:

Was machst du da?

K.:

Ich schreibe mein ganzes Wissen über diese Kerle auf.

W.:

Willst wohl jemanden erpressen, oder einen Handel mit dem Richter machen, he?

W. ist offensichtlich jetzt stark interessiert.

Komm, zeig’ her!

Nimmt die beschriebenen Blätter vom Tisch, die K. ihm aber sofort wieder energisch

aus der Hand nimmt.

K.:

Das brauch’ ich noch! Ich erklär ‘s dir lieber, das geht schneller.

W.:

Gut, aber ich hab nur fünf Minuten Zeit. Lacht. Ich muss mich doch persönlich um

jeden meiner Genossen kümmern, da bleibt mir nicht viel Zeit für den Einzelnen.

Lacht. Los, fang an, spann’ mich nicht auf die Folter. Lacht.

K.:

Ich war, wie ich ‘s dir erzählte, Kulissenschieber in einem Theater. Kein besonders

großes, aber immerhin. Normalerweise geben sie nur Kabinettstückchen, aber die

haben es in sich, sage ich dir. Es war weltberühmt. Die meiste Zeit musste ich bei

den Proben verbringen, die waren eigentlich das Wichtigste. Die Aufführungen als

solche waren dann nur noch eine glitzernde Schau fürs Publikum. Aber die Proben!

Kratz sich die mittlerweile sprießenden Bartstoppeln.

W.:

Zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch genüsslich in Ringen aus.

Da sind sie den Schönen wohl richtig an ‘s Zeug gegangen, wie? Lacht. Wie heißt es

doch: die Schönen Künste? Lacht.

K.:

Schaut ihn erstaunt an: Du kennst dich aus?

W.:

Na klar, so mal ganz unter uns, spricht leiser, früher war ich mal ‘n Kerl. Und hab’

auch mal was anderes gedreht. Bis es mir dann zu heiß wurde, und da dachte ich:

such’ dir mal ‘nen sicheren Platz. Lacht. Und wo meinst du, ist der wohl?

Lacht. Macht eine Geste mit dem linken Arm, die das Zimmer umfasst. Lacht. K.

schaut ihn nun mit mehr Aufmerksamkeit an.

K.:

Du bist ja ein komischer Kauz. Im Gefängnis fühlst du dich am sichersten?

Jetzt lacht K., lacht lange, bis ihm die Tränen kommen.

W.:

Lachst du mich aus?

K.:

Immer noch lachend, auch beim Sprechen:

Nein, nein! Es ist nur, dass ich gerade darüber dir etwas erzählen wollte.

W.:

Erstaunt und leicht entrüstet: Du meinst Theater und Gefängnis wär’ das gleiche?

K. nickt, hat sich langsam gefangen. Trocknet sich die Tränen ab. Jetzt wieder ernst.

K.:

Du wirst es mir nicht glauben, ja. Aber ich will es dir beweisen. Wie gesagt: ich war

Kulissenschieber. Aber das soll nicht heißen, dass ich dumm wäre. Schmunzelt. Nein,

ich glaube, ich war wirklich dumm. Lacht kurz, während W. ihn verständnislos anschaut.

Ich will dir nur das Wesentliche erzählen. Stell’ dir mal vor, dies wäre eine

Tafel.

K. nimmt die Kreide und geht zur Stirnwand. Er beginnt, eine Reihe von Punkten auf

die schon stark eingedunkelte Wand zu malen, mit der weißen Kreide. Etwa so:

K 0

W. schaut ihm erst eine Weile zu. Dann:

W.:

He, lass das sein, das ist hier nicht erlaubt. Da krieg’ ich Ärger.

K.:

Beschwichtigt ihn: Lass nur, ich mach ‘s nachher wieder weg, damit die Putzfrau es

nicht sieht!

Lacht. W. fällt in das erheiterte Lachen mit ein, schaut dann aber von K. fragend hinüber

zur Wand.

Stell’ dir mal vor, dies wären alle Taten der Menschen, die im Moment hier leben.

Natürlich kann ich nicht so viele Punkte machen, wie es tatsächlich Menschen und

Taten sind, es soll ja auch nur ein Beispiel sein. W. nickt, sagt aber nichts. Jetzt denk’

dir mal zwei Striche darein.

K. geht zur Wand und malt mit weißer Kreide zwei Striche durch die vielen Punkte,

sowie einen Doppelpfeil an eines der Enden. Etwa so:

K 1

Dann wendet er sich um:

Diesen Abstand zwischen den beiden Parallelen nennen wir einmal die Bandbreite.

Du kennst es vielleicht aus der Zeitung: die Bandbreite der Wechselkurse.

W.:

Nickt, zündet sich erneut eine Zigarette an. Ja, das kenn’ ich. Aber trotzdem versteh’

ich nicht, worauf du hinaus willst, und was das mit uns beiden zu tun hat.

K.:

Während er sich wieder der Wand zudreht:

Wart ‘s ab.

Alle Punkte, hatten wir gesagt, seien die Taten der Menschen. Was du nun zwischen

den Linien, also innerhalb der Bandbreite, siehst, sind die Taten, die ich einmal als

die Guten Taten bezeichnen möchte.

Die Punkte unterhalb der oberen Linie wären also recht gute Taten, die Punkte, die

du weiter unten siehst, aber immer noch oberhalb der unteren Geraden, sind die weniger

guten. Aber ob recht gut, mittelgut oder weniger gut, im Allgemeinen sind sie

gut.

Er wendet sich um und fixiert W.

Was fällt dir daran auf?

W.:

Steht auf, zertritt seine Zigarette auf dem Fußboden, steckt die Hände in die Hosentasche,

geht ein paar Schritte.

Ehrlich gesagt: nichts. Aber du hast meine Neugierde geweckt.

K.:

Sticht es dir nicht ins Auge, dass die Mehrzahl der Punkte zwischen den beiden Geraden

liegt?

W.:

Schaut sich alles nochmals an, man merkt, dass er nachdenkt.

Klar, weil du die Striche so weit auseinander gemacht hast. Hättest du sie enger gelegt,

wären weniger Punkte drin.

K.:

Nimmt W. eine Zigarette aus der Hemdtasche. W. reicht ihm Feuer.

Hab’ ich mir gedacht, dass du das sagen wirst. Aber da ich hier in diesem Hause

macht die gleiche Armgestik wie vorhin W. sozusagen in Expertenkreisen bin, möchte

ich dir mit einer weiteren Frage, oder besser zweien, entgegenkommen.

Wie viele Heilige kennst du?

W.:

Etwas verdutzt: Heilige? Nun, ich kenn’ nicht viele. Den heiligen St. Christopherus

kenn’ ich. An die anderen kann ich mich nicht recht erinnern, aber es werden nicht

viele sein. Zündet sich die dritte Zigarette an. Aber ich versteh’ nicht.

K.:

Wart’. Ich will dir zunächst die zweite Frage stellen.

Kneift die Augen etwas zusammen. Ein leises Lächeln deutet sich an seinen Lippen

an.

Wie viele sind durch deine Hände gegangen, die Verbrecher waren?

W.:

Da kenn’ ich mich etwas besser aus. Lächelt. Man bildet sich ja auch fort im Beruf.

Laut der letzten Statistik vom November wird die Verbrechensrate was Kapitalverbrechen

betrifft, mit unter zwei Prozent angegeben. Die Rate bei den sogenannten Delikten

scheint in den letzten Jahren leicht angestiegen zu sein. Das gleiche trifft –

nicht so stark wie in Amerika – allerdings auch auf die schwereren Verbrechen zu.

Lacht. Also arbeitslos wird’ ich nicht, auch wenn die Polizei in manchen Bereichen

stark nachgelassen.

K.:

Du gibst also zu, dass der Heiligen kaum oder wenig, der Verbrecher dagegen etwas

mehr. Und stimmst mir wohl zu, dass man beide als Ausnahme bezeichnen könnte,

verglichen jetzt mit dem normalen Menschen?

W.:

Zieht an seiner Zigarette. Da kann ich nicht widersprechen. Im Prinzip ist es so.

Bleibt stehen. Da hätten wir auch ganz schön zu tun, wenn die Hälfte gut und die

andere Hälfte lacht so schlecht wie wir. Dann aber nachdenklich: Da müssten wir

aber gewaltig anbauen.

K.:

So, jetzt schau dir die Zeichnung an.

W.:

Wirkt etwas unruhig.

Du meinst also, das Gute hat eigentlich eine ziemliche Bandbreite, nicht?

K. nickt ihm schweigend zu. Stille. Nach einer Weile:

Das heißt demnach dabei mit dem Kopf in Richtung Skizze deutend, dass das Böse –

wenn man mal so sagen darf – eigentlich einen Sonderfall darstellt.

Plötzlich erkennend, aber leiser werdend, fast wie zu sich selbst und scheinbar gedankenverloren:

Eine Minderheit sozusagen nur. Ein Ausnahmefall.

K. lässt ihn gewähren. Eine Zeit lang Schweigen.

Aber dein Zusammenhang ist mir nicht klar. Schaut auf die Uhr. Es wird höchste Zeit

für mich. Will abgehen. K. fasst ihn am Arm, bittend.

K.:

Bitte bleib’ noch eine Minute. Ich bin noch nicht zu Ende.

Geht zur Wand zurück, da W. unschlüssig, aber doch mehr daran interessiert scheint,

K. noch sprechen zu lassen, als dass er tatsächlich zum Gehen sich entschiede.

Stell dir jetzt mal vor, du verschöbest das ganze Band, sagen wir mal nach unten.

K. nimmt sich die rote Kreide und strichelt zwei Parallele etwas nach unten versetzt.

Etwa so:

K 2

Sichtlich zufrieden wendet er sich wieder an W.

Was siehst du nun?

W.:

Geht mit unverhohlenem Interesse näher an die Wand. Die linke Hand hat das Kinn

umfasst.

Wenn ich mal so sagen darf, hast du das Band verschoben. Plötzlich hätten wir die

Anzahl der Guten erhöht, während fast keine Bösen mehr da sind, nur noch vereinzelt.

K.:

Ja.

Zeigt in den oberen Bereich zwischen der ursprünglich ersten durchgehenden Linie

und der jetzt oberen gestrichelten Linie.

Und hier hast du jetzt einen Bereich, der dich interessieren sollte. Ehemals nur Gute

haben wir mir nichts, dir nichts praktisch zu Heiligen erhoben.

W.:

Lacht. Wir beide als Seligsprecher, was?

K.:

Lachend, aber sehr ernst: Ja. So einfach ist das. Und die paar da unten, die nützen

uns noch als schlechtes Gewissen.

W.:

Wirkt etwas verlegen. Seine spöttischen Grundzüge im Gesicht sind kaum noch zu

bemerken. So, als begänne er etwas zu ahnen:

Sag’ mir noch mal, was hast du damit zu tun?

K.:

Wirkt etwas eingefallen. Strafft sich dann aber und sagt:

Ich will ehrlich sein. Meine Aufgabe war ‘s, das Band zu schieben bei den Proben.

Fährt fort, W. starrt ihn sprachlos an, ein Hauch von Feindseligkeit von Seiten W.

macht sich breit. K. hat die Reaktion beobachtet, deswegen fährt er fort.

Weißt du, da kamen immer all’ die Regisseure, und hundertmal mussten wir ‘s probieren,

bis mit der richtigen Einstellung sie zufrieden. Fährt schnell weiter, da W.’s

Feindseligkeit größer zu werden scheint.

Bei den Auftritten selbst hast du sie allerdings nie gesehen. Höchstens beim ersten

Male, wenn sie die goldenen Pokale und den Beifall entgegennahmen.

Schweigt, beobachtet W., der ganz still steht. Dessen aufgekommene Feindseligkeit

gegenüber K. ist umgeschlagen in zweifelnde Ungläubigkeit. K. erkennt die Chance.

Während er zur Wand eilt und mit schnellen Strichen zwei neue Geraden in sternförmiger

Form skizziert:

Das war der Sozialismus. Die breite Masse sei gut. Die da oben sind die Spitze der

Partei. Und ein paar Dissidenten machen alles nur noch glaubwürdiger.

W. ist ernst geworden und hat höchst interessiert die Worte von K. aufgenommen.

W.:

Stößt heiser heraus: Weiter.

K.:

Diese Situation ist wieder anders.

Zeigt auf die Wandmalerei, die jetzt etwa wie folgt aussieht:

K 3

Alles muss groß und deutlich auch für den Zuschauer sichtbar sein.

W.:

Auf einmal wie gestochen, geht schnell zur Wand, fasst K. am Arm.

Bitte lass’ mich versuchen, die Bedeutung zu finden.

Hier bleiben recht wenige Heilige über all den anderen. Einige von den eigentlich Guten

sind allerdings abgestiegen, und die Zahl der Bösen ist größer. Als wäre er erleichtert:

Das ist Heute, nicht wahr?

K.:

Lächelt ihn bescheiden an, dann ernst:

Nein, das war Gestern.

Sehr langsam, als hätte er Schwierigkeiten zu sprechen:

Das war Hitler und die Nazis.

W.:

Ist leichenblass geworden. Er zeigt auf die kleine Zahl der oberen Punkte. Dann gepreßt:

Das ist der Führer und seine Clique.

K.:

Setzt sich in die Ecke auf den Schemel, während W. weiter wie wächsern vor der

Wand steht. Die Beleuchtung sollte so eingestellt sein, dass man die Distanz zwischen

beiden wahrnimmt.

Ja.

W.:

Schleppend geht er ganz an die Wand, lehnt sich dort schwer an, aber so, dass er

quasi dem Publikum voll ins Gesicht schaut, während er auf die untere jetzt vergrößerte

Zahl der Punkte schaut.

Und das sind die Juden.

Eine Weile absolutes Schweigen. Man hört absolut überhaupt nichts. Plötzlich rennt

W. auf K. zu, packt ihn an der Jacke, reißt ihn hoch. Sehr laut schreiend:

Stimmt ‘s?

Es sieht so aus, als hänge K. in seinen Kleidern, so dicht hat W. ihn herangezogen.

Sie sind jetzt sozusagen Auge in Auge. K’s Gesicht zeigt großen Schmerz.

Kulissenschieber? Kulissenschreiber!

K. sagt nichts. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Nach einer Weile lässt W. K. fallen,

aber nicht so brutal, wie man es erwarten könnte, eher fast ein wenig behutsam.

W. wendet sich ab. K. schaut in Richtung Wand.

Vom Zuschauer her muss es so aussehen, dass, wenn sie durch die Tür ins Zimmer

blicken, sie die Wandskizze sehen.

Links, aber nur zur Hälfte, den nachdenklichen W. Rechts – ebenfalls nur halb im Bilde,

K., der nach wie vor auf dem Boden kauert.

Nach einer Weile des Schweigens, wobei man meint, ein Schluchzen von K. zu hören,

der aber tatsächlich lautlos an Boden liegt – man sieht nur, wie sich sein Brustkorb

schwer hebt und senkt – W. leise:

Die Verführung ist halt’ zu groß.

Nach einer Weile geht er hinüber zu K., hebt ihn auf. K. rinnen jetzt selbst Tränen

über das Gesicht.

Komm, lass uns fliehen.

K. schaut ihn ungläubig an, lässt sich aber von W. aus dem Zimmer ziehen. Die Beleuchtung

ist jetzt so eingestellt, dass der Zuschauer durch die offen gebliebene Tür

nur noch die Skizze an der Wand sieht. Die Tür scheint dadurch kleiner, als sie in

Wirklichkeit ist. Diese Einstellung bleibt zwei oder drei Minuten so, ehe sich der Vorhang

senkt.

4. Szene

Eine fröhliche Landschaft, in welcher beide langsam näher kommen. Im Ganzen eine

befreiend wirkende Stimmung. Der Zuschauer muss meinen, plötzlich Frühlingsluft zu

spüren und das Gefühl haben, als müsse er selbst tief einatmen.

Wärter:

Es ist gut, draußen zu sein.

Kulissenschieber:

Ohne dass er ein trauriges Gesicht hätte, eher etwas spitzbübisch:

Es ist schlecht, draußen zu sein.

Wärter:

Ganz, ganz leicht erstaunt:

Wieso?

Kulissenschieber:

Grinsend: Wir haben kein Geld.

Die beiden schauen sich an, umarmen sich und lachen mit einer zuversichtlichen

Kühnheit. Der Vorhang fällt.

Ihr alle!

Unsere altgedienten Hirn-Akrobaten

nur mit sich selbst in einem Bette schlafen,

und mit meisterhaftem sibyllinischen Geseufze,

und ihrem servilen Ideologie-Geschnäuze,

in ihrem Setzkasten aus Kristall und Glas

schieben hin und her sie uns, ohn’ Unterlass,

und ehe wir uns verseh’n, sind wir abgelegt.

Zunächst einmal in aller Ruhe Abstand gewinnen

und dann mit kühner Zuversicht neu beginnen.

Bemühen wir uns mit vereinten Kräften,

unsere Belange engagierter selbst zu verfechten!

Stürmisch wird ‘s sonst in den nächsten Jahren,

und wir müssen die Chance uns und unsren Kindern wahren!

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